Ich
befinde mich in einem düsteren Raum. Ein ca. 1 Meter hoher
Sockel, in dem Gitterstäbe verankert sind, befindet sich vor
mir. Er ist mit Steinfliesen gekachelt, ebenso wie der
Boden. Der Raum hinter den Gitterstäben verliert sich in der
unendlichen Weite. Er scheint kein Ende zu haben und
verliert sich in der Dunkelheit. Hier scheint eine Grenze zu
sein, die etwas von einander trennt. Aus der Dunkelheit
kommen wieder und wieder Wesen mit menschlicher Gestalt, sie
sind schmutzig, teilweise blutverschmiert, sie haben lange
Nasen und scheinen uralt zu sein. Vor mir befinden sich
andere Wesen, nicht minder Furcht erregend, aber sie
scheinen mächtiger zu sein als die hinter dem Gitter, denn
diese haben Angst vor ihnen. Ich habe vor beiden angst. In
ihrer Angst flüchten sie in das Dunkel, wenn die Wesen auf
meiner Seite sie zu fassen versuchen um, sie zu quälen. Sie
schimpfen, jammern und fluchen, manchmal weinen sie, aber am
schlimmsten ist ihr Lachen, es durchdringt alle Zellen
meines Körpers als wolle es sie auflösen. Es ist so
fürchterlich, dass ich meine Augen verschließen möchte,
wegrennen will, oder flehe, endlich aufzuwachen und mir
wünsche, das Licht des Tages zu sehen. Aber es geschieht
nicht, denn ich bin nicht mehr in der Lage, ohne Flügel, dem
zu entfliehen, ich bin erst 3 Jahre wieder ein Mensch und
dieser Traum hat sich fest an mein junges Leben gebunden.
Ich habe ihn wieder und wieder, so dass er mir noch im hohen
Alter präsent sein wird.
Nicht jede Nacht terrorisieren mich
diese Geister, manchmal habe ich vor ihnen Ruhe, so als
seien sie auf Streifzug, um andere mit ihrem Horror zu
verängstigen, aber dann sind sie wieder bei mir, und ich
kann mich nicht gegen sie wehren und muss ihre Bilder
unfreiwillig ertragen.
Wir befinden uns in Würzbug, meine
Mutter, mein Vater und meine 5 ½ Jahre ältere
Schwester. Ich erinnere mich an Wege die wir gingen, vorbei
an zerbombten Häuserfronten, deren Fassaden wie Mahnmale die
Straßen einfassten. Dahinter befanden sich die Schutthaufen
der meist ausgebrannten Häuser, über die eine dünn
sprießende Grünvegetation versuchte einen Schleier des
Vergessens wachsen zu lassen. Ich blickte beim Vorbeigehen
in die dunklen, scheibenlosen Kellerfenster, gebannt starrte
ich in sie hinein und hoffte was zu erspähen, was ich aber
in Wirklichkeit nicht sehen wollte. Tote Menschen. Und dies,
obwohl der Krieg neun Jahre vorbei war als ich zur Welt kam,
und ich ihn nicht miterlebte. Ich war gerade mal vier oder
fünf Jahre und fragte mich im Angesicht der Trümmer, wie
viele Menschen wohl noch unter den gebrochenen Steinen
liegen mögen.
Anfänglich ging ich lieber in
respektvollem Abstand an den Kellerluken vorbei. Die Seite
zum Straßenverkehr schien mir sicherer, aber meine Mama
wollte dies nicht, sie kannte auch nicht mein Ansinnen. Ich
vermutete, dass die bösen Wesen, die mich im Traum immer
wieder besuchten, hier irgendwo ihr Zuhause haben müssten.
Ich versuchte ihre blutverschmierten Hände in der Dunkelheit
auszumachen, und fürchtete mich davor, wenn sie mich
blitzschnell mit ihren Armen in ein Kellerloch ziehen
würden. Mit dem Alter ließen meine Träume nach und auch die
Furcht vor den Kellerlöchern, so dass ich sogar den Mut
aufbrachte, kleine Steinchen in das Dunkel zu werfen, in der
Hoffnung, es möge sich etwas rühren. Aber es rührte sich
nichts. Wir wohnten in der Hartmannstraße 33, im obersten
Stock, es war eine Dachgeschoßwohnung mit schrägen Wänden
und Dachgauben. Die meiste Zeit des Tages verbrachte ich mit
meinem Bauklotzkasten. Es war eine Kiste mit den
unterschiedlichsten Klötzen, aber alle zusammen passten nur
nach einem bestimmten Schema in ihre Kiste. Es ließen sich
Städte, Paläste und Straßen damit bauen, und ich baute
stundenlang. Aber auch meine Fantasie zu Abenteuer konnte
ich in unserer kleinen Wohnung ausleben, indem ich die
Schubladen des Küchenschrankes halb herauszog und diesen als
Berg der Herausforderung bestieg. Nicht wissen durfte das
meine Mama, sie war von solchen Tollereien nicht angetan.
Meist begann ein Satz, der mir etwas verbot, mit „Bub…“ ,
und in den folgenden Streitgesprächen versuchte ich ihr
begreiflich zu machen, „…als Du mal klein warst und ich war
groß…“ , und da wurde sie meist nachdenklich, fast schon
traurig, aber nach einer Weile fing sie doch wieder an zu
lachen. Aber zum Lachen war ihr nicht immer mit dem kleinen
Rolf. Im Lebensmittelgeschäft überkam mich der Heißhunger
auf einen der glänzenden roten Äpfel in der Auslage. Bub,
sagte sie, den kannst du nicht haben. Während ich bei
anderen Gelegenheiten mit den Füßen aufstampfte, oder mich
gar von ihrer Hand los riss, um mich auf dem Boden zu
wälzen, nahm ich hier kurzerhand einen aus dem Regal und
biss hinein. Und nun war er mein.
Die Zeit verging und ich nahm immer
mehr Anteil an unserem Familienleben. Ich bemerkte, dass das
andere Kind, meine Schwester, etwas hatte, was mir fehlte.
Sie hatte ein Lebewesen, über das sie bestimmen durfte. Es
war ein blauer Vogel, den sie und meine Eltern Hansi
nannten. Ich wollte auch ein Tier. Ich wollte, bettelte,
flehte und weinte, bis ich endlich meine Mama so weit hatte,
das sie sagte, “Gut Bub, morgen gehen wir in die
Zoohandlung.“
Es kam der Morgen und nach dem
ersten Augenaufschlag kam wie erwartet meine erste Frage,
„Gehen wir jetzt in das Tiergeschäft?“ „Nachher Bub,
nachher! Wir müssen erst….“ Was wir noch müssen hat mich
nicht gekümmert, wichtig ist nur das wir bald gehen, da ich
schon so gespannt war, was ich mir aussuchen könnte. Nach
einer Weile fragte ich wieder und wieder. Ich war schon sehr
quengelig und wurde immer ungeduldiger. In der Ferne sah ich
schon einen kleinen Wutausbruch auf mich zukommen, aber auf
meiner Seite. Die Zeitabstände wurden von mal zu mal
geringer und meine Formulierung beschränkte sich nur noch
auf die Frage: “Können wir jetzt gehen?“ – Endlich war es so
weit und wir gingen los. Im Zooladen schaute ich mir alle
Tiere genau an und hatte auch schon einen Favoriten erspäht.
Auch einen festen Entschluss, was ich nicht haben wollte,
hatte ich gefasst. Auf keinen Fall so einen blauen Vogel wie
Hansi, der den ganzen Tag nur dumm auf der Stange sitzt und
sich nicht kuscheln lässt. Es sollte schon so was zum
streicheln sein, wie ein Hamster, Meerschweinchen oder
Häschen. Eine ganze Weile schaute ich mir die lebhaften aber
auch müden, verschlafenen Tiere an. Auch die Fische hatten
eine magische Anziehungskraft auf mich. Meine Mama schwätzte
in der Zwischenzeit mit dem Verkäufer und als er hörte, dass
es um mich ging, schenkte er mir sogar ein leichtes Grinsen.
So wie ich wusste was ich wollte, so wusste meine Mutter
genau was ich nicht bekommen würde. In meiner Faszination zu
den Tieren bemerkte ich nicht, welchen teuflischen Plan die
Erwachsenen schmiedeten, um mir das für mich geeignete Tier
aufzuschwätzen. Ich wurde herumgeführt und belehrt, es
wurden Vorschläge gemacht und verworfen. Das was ich wollte
ging schon gar nicht. Es waren Argumente wie, dafür haben
wir eine zu kleine Wohnung, dafür bist du noch zu klein, das
braucht zu viel Pflege und jenes frisst zu teures Futter.
Aber ohne etwas konnte und sollte ich auch nicht nach Hause.
In letzter Instanz führte mich der grinsende Verkäufer vor
einen Glaskasten. Hier tummelten sich Frösche und Lurche und
solche Krabbelviecher. Ich war so verwirrt und erschlagen
von den Argumenten der Erwachsenen, dass ich zustimmte.
Wenigsten aus dieser kleinen Welt hatte ich die freie
Auswahl. Ich entschied mich für einen daumengroßen, grünen
Frosch. Der tüchtige Verkäufer war nun endlich an seinem
Ziel und holte noch die Dinge herbei, die ein Frosch in
seinem Leben braucht. Als erstes die berühmte Leiter, die er
benötigt um den Menschen zu zeigen wie das Wetter wird. Er
verzettelte sich in ein bla bla bla, anstatt meinen kleinen
neuen Freund endlich einzupacken. Ich wollte ihn endlich zu
Hause haben, um ihn ausprobieren zu können. Da war aber noch
die Frage nach dem Futter. Die war auch wieder für mich
interessant und ich hörte aufmerksam zu. Am liebsten, sagte
der immer noch grinsende Verkäufer fängt sich der Frosch
lebende Fliegen. In der warmen Jahreszeit können man ihm
Fliegen aus der Luft fangen und sie zu ihm in das Glas
stecken. Nun komme ich zu einem Punkt, der aus meinem
grinsenden Verkäufer einen Helden werden lässt, denn das was
er uns nun demonstrierte habe ich in meinem weiteren Leben
niemals wieder erlebt. Er trat einen Schritt zurück, fuhr
mit seiner weit geöffneten Hand durch die Luft und hatte
tatsächlich in der geschlossenen Hand eine lebende Fliege.
Respekt!!! Er schob sie in das Glas zu meinem Frosch und
nun waren sie schon zu zweit. Meine Mama war auch verblüfft
und glaubte sich in der Lage, es mit ein bisschen Übung dem
Verkäufer nachmachen zu können, was ihr aber nie gelang. Sie
war selbst bei ruhig sitzenden Fliegen noch zu langsam,
diese, so wie mein Vater, mit der freien Hand von Tisch oder
Stuhl zu fangen.
Zu hause angekommen durfte mein
Frosch erst ein mal ein Bad nehmen. Eigentlich war er gar
nicht so klein, wenn er in unserer Waschschüssel schwamm und
seine langen Schenkel ausstreckte. Wir bauten ihm in seinem
Glas ein schönes Nest mit frischem Moos und stellten seine
Leiter darüber. Es vergingen Tage und Wochen mit Fliegen und
Insekten fangen. Mama entwickelte eine Taktik mit einem
nassen Tuch und mein Vater wurde immer geschickter.
Fröschchen wollte kein totes Futter, es mussten lebende
Insekten sein. Wespen wollte er auch nicht, seine Leiter war
im auch nicht geheuer, er saß immer auf dem Moos, dass wir
öfters erneuerten. Natürlich hatte Fröschchen auch sein
tägliches Schwimmen in der Waschschüssel, die mit einer
Insel aus Kork bestückt wurde, damit er sich auch ausruhen
konnte. Mein Anteil an der Tierhaltung beschränkte sich
leider auch bei Fröschchen auf das Zuschauen, denn ich war
zu langsam, um Fliegen zu fangen und der grüne Zappler war
so fix, das ich ihn nicht in sein Zuhause verfrachten
konnte. Waltraud meine Schwester erledigte die
erforderlichen Dinge.
Es wurde Herbst und Fliegen gab es
immer seltener, und mein Frosch musste nun auch mit Maden
und anderen Kriechtieren zufrieden sein. Aber seine
Schwimmübungen waren weiter ein stabiler Bestandteil seines
Lebens. An einem Abend, als wir alle schon in der Küche
versammelt waren, viel uns auf, dass wir durch die Hektik
des Tages, meinen Frosch noch nicht schwimmen gelassen
hatten. Vater las in der Zeitung und Mama brutzelte auf dem
Gasherd eine Pfanne mit Bratkartoffeln für das Abendessen.
Geh weg mit dem Viech hier, sagte sie zu meiner Schwester,
die Fröschchen gerade das Bad bereitete. In diesem Moment
hüpfte der kleine Mann geradewegs auf den Rand der heißen
Pfanne. Die Hitze der Gasflamme veranlasste ihn, seine über
den Rand ragenden Schenkel anzuziehen, und so rutschte er in
das heiße Fett der Pfanne neben die brutzelnden Kartoffeln.
Mir stockte der Atem. Meine Schwester stand versteinert da.
Aufgeschreckt durch das Kreischen meiner Mutter, eilte mein
Vater dem Frosch zu Hilfe, griff mit der blanken Hand in die
heiße Pfanne und schleuderte mit einem beherzen Schubs
meinen Frosch in Sicherheit. Zurück in seinem Glas
betrachtete ich meinen lautlosen Frosch, aber mir war klar,
dass es sein Ende war. Da konnten ihm auch keine Tränen
weiterhelfen. Ihr müsst ihn tot machen, sagte meine Mutter.
Ich verkroch mich in Trauer und fragte mich, ob er den
Sprung in die Pfanne absichtlich gemacht hatte, weil er
keine Fliegen mehr bekam. Meine Schwester verlor sich in
Schuldgefühle. Frust, Trauer und Enttäuschung war alles was
blieb an diesem Abend, und ein kleines Kartonschächtelchen
in dem wir den kleinen, verbrannten Körper unter einer Hecke
nahe unserer Wohnung beisetzten.
…
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